Sonntag, 7. Mai 2017
Sylvester in Seoul - Tag 6
Für den Neujahrstag stand nur eine Sache auf dem Programm: Treffen mit Anneena und Familie bei ihr zu Hause.

Sie waren rücksichtsvoll genug, mich nicht direkt morgens zu empfangen, da ich ihnen mitgeteilt hatte, dass ich am Vorabend noch zur Bosingak Belfry Glocke gehen wollte. Eine Verabredung um die Mittagszeit hieß, dass ich erst um 10 Uhr aufstehen musste, weil die Fahrt schon mehr als eine Stunde einnahm. Also war es eine gute Uhrzeit, die mir einen ruhigen Morgen versprach.

An der verabredeten Haltestelle begrüßte mich Anneena. Dieses Mal war ich pünktlich, denn ich wusste, wie viel Zeit ich einplanen musste, und überraschte die junge Dame. Sie verkündete mir, dass wir noch ein Stück zu Fuß gehen mussten. Das Stück war eine halbe Stunde, aber in Seoul ist das um die Ecke. Wir hätten den Bus nehmen können, aber sie musste zwischendurch noch etwas im Supermarkt holen, weshalb es sich nicht lohnte. Nach einem kurzen Abstecher im nächstbesten Supermarkt, in dem ich mir Mini Yakgwa holte, näherten wir uns Anneenas Wohnung. Allerdings mussten wir dafür einen kleinen Berg erklimmen.

In einer Wohnsiedlung mit vielen, meist drei- bis viergeschossigen Mehrfamilienhäusern bog Anneena in einen Hauseingang und zeigte mir den Weg zu ihrer Wohnung. Es überraschte mich, dass die Tür zum Haus offenstand. Das Gebäude war zwar nicht mehr das neuste, aber man hatte überall neue Türen mit elektronischen Zahlenschlössern eingebaut. Das Treppenhaus hingegen hatte schon lange keine Sanierungsarbeiten erfahren. Es wirkte alles sehr abgenutzt und alt, inklusive der Fenster.

Hinter der Tür begrüßte uns ein winziger Eingangsbereich, in dem man seine Schuhe stehenließ, bevor man eine Stufe hinauf in die Wohnung durfte. Mit winzig meine ich einen Quadratmeter. Es gab keinen Flur, sondern man stand sofort in der Wohnküche dieser Dreizimmerwohnung. Das war für mich sehr gewöhnungsbedürftig. Der Boden war mit PVC ausgelegt und darüber lag eine Heizdecke, um eine Fußbodenheizung zu erzeugen. Anneenas Mutter zeigte mir sogar stolz, dass sie eine Heizdecke fürs Bett aus Deutschland hatten. Als ich ihr sagte, dass diese hierzulande überhaupt nicht beliebt waren, guckte sie mich erstaunt an. Aber das Produkt war eindeutig deutschen Ursprungs: Beschriftung und Flagge waren unverkennbar.

Als Anneenas Mutter mir meinen Wintermantel abnahm, fiel sie beinahe um. Sie stellte überrascht fest, wie schwer er doch war. So langsam dämmerte mir, warum Koreaner sich immer über die Kälte beschwerten: Zum einen tranken sie selbst bei Minusgraden eisgekühlte Getränke. Zum anderen waren ihre Winterklamotten nur dem Anschein nach wintertauglich. Ich hatte vorsichtshalber noch die Kapuze befestigt, weil ich nicht wusste, wie windig und kalt es in Seoul werden würde, also war der Mantel noch ein bisschen schwerer als sonst. Anneenas Winterjacke hingegen war ungefähr so schwer wie ein Ärmel meines Mantels. In Anbetracht der Tatsache, dass das junge Ding nur aus Haut und Knochen bestand, wunderte es mich umso mehr, dass sie bis zum heutigen Tag überlebt hatte – wenn es allein um die klimatischen Bedingungen ging.

Man stellte mich dem Herrn des Hauses, Anneenas Vater vor, den ich heute zum ersten Mal sah. Er war schon damit beschäftigt, das Essen aufzusetzen, denn es gab selbstgegrilltes Samgyeopsal. Dafür hatten sie extra den Tischgrill ausgepackt.

Selbstgemachtes Samgyeopsal

Natürlich durften einige Beilagen in Form von Kimchi und Kim nicht fehlen.

Beilagen zum hausgemachten Samgyeopsal

Es gab auch keine Zeit für eine Tour durch die Wohnung (ich weiß noch nicht einmal, ob das in Korea üblich ist), denn kaum dass ich angekommen war, setzte man mich an den Tisch und forderte mich auf zu essen. Anscheinend waren alle schon ausgehungert – oder sie nahmen das mit dem Essen äußerst ernst. Ich wollte auf die anderen warten, weil Anneenas Mum noch in der Küche wuselte, aber sie schob mir ein Stück fertiges Fleisch auf den Teller und drängte mich. Also begann ich zu essen. Es war sehr lecker. Der Reihe nach futterte ich mich durch, probierte hier, naschte dort. Das Kim war in Öl eingelegt, mit Sesam bestreut, angebraten und voll lecker.

Als alle verkündeten, dass sie satt waren, hörte Anneenas Vater auf, Fleisch nachzulegen. Der Packungsgröße nach zu urteilen, hatte er für eine ganze Kompanie geplant. Nach dem Essen jagte Anneenas Mutter uns zu einem Verdauungsspaziergang nach draußen. Ihre Tochter wollte mir unbedingt Kaninchen zeigen, die so handzahm waren, dass sie jedem aus der Hand futterten. Zudem hatten sie gelernt, dass Leute, die etwas Raschelndes in Händen halten, ihnen Süßigkeiten geben, also ließen sie sich mit Tüten anlocken.

So zogen wir, Jacob, Anneena und ich, uns an, packten einige Gemüsereste und Snacks ein und zogen in den nah gelegenen Park. Es ging wieder bergab, bergauf, bergab. Ich wunderte mich, wie diese beiden Kinder sofort nach so einem Essen so fit sein konnten. Dann erinnerte ich mich, dass es Kinder waren. Außerdem liefen sie diese Strecke mehrmals am Tag, weil es auch ihr Schulweg war. Wie dem auch sei, sie liefen mir davon und ich hatte Mühe mitzuhalten. Stellenweise waren hölzerne Stufen angebaut worden, um den Passanten den Aufstieg zu erleichtern. Aber oft war es bequemer, diese nicht zu benutzen, weil der Abstand zwischen den Stufen nicht genormt war. Für mich waren es für gewöhnlich eineinhalb Schritte, die ich tätigen musste, um die Stufen zu erklimmen. Das war äußerst unangenehm.

Schon auf der ersten Lichtung fanden sich zwei schwarze Kaninchen, die so zutraulich waren, dass man sie beinahe hätte mit nach Hause nehmen können.

schwarze Kaninchen mitten im Wald

Wir gaben ihnen erst einmal einige Salatblätter, bevor Anneena Küchelchen auspackte und den beiden vorsetzte. Meine kleine Koreanerin war eingeschnappt, weil eines der Kaninchen ihr nicht aus der Hand fressen wollte. Sie lockte es mit der Süßigkeitenverpackung, hielt ihm dann aber ein Stück Salat unter die Nase. Ich würde behaupten, es ließ sich einfach nicht auf den Arm nehmen. Der Gesundheitsfaktor dieser Ernährung sei mal dahingestellt.

Auf der Lichtung befand sich ebenfalls ein Outdoor-Fitnesscenter.

Outdoor-Fitnesscenter mitten im Wald

Es gab verschiedene Geräte, von denen einige mit Eigengewicht arbeiteten, andere einfach nur die Beweglichkeit förderten. Was mich besonders erstaunte, war die Tatsache, dass es zwar viele dieser Fitnesseinrichtungen gab, Kinderspielplätze dafür Mangelware waren. Außer auf Schulhöfen hatte ich keinen kindgerechten Platz gefunden. Da wunderte es mich gar nicht, dass Jacob und seine Schwester die Fitnessgeräte als Alternativen verwendeten. Immerhin standen sie überall rum, manchmal sogar nur einzelne Geräte neben einem Parkplatz.

Nach einer Weile zogen wir weiter, um mehr Kaninchen zu suchen, aber auch um uns ein bisschen zu bewegen. Da der Park auf einem Hügel lag, konnte ich zudem noch die Aussicht bewundern. Viel gab es da nicht, immerhin war es eine einfache Wohngegend mit vorwiegend kleinen Häusern. In der Ferne sah man einige Hochhäuser.

Wir fanden noch mehr Kaninchen in verschiedenen Farben. Es gab weiße, graue, rote, alte und junge Kaninchen.



Anneena mochte am meisten die mit großen Augen. Nachdem wir eine große Runde gedreht hatten, fiel den beiden nichts mehr ein, was sie mir zeigen könnten. So schlenderten wir langsam wieder zurück, gingen wieder durch den Park, weil er schöner als die Straßen war, und kamen bei Anneenas Elter an, als sie gerade Hoddeok aufsetzten.

Über zu wenig Essen könnte ich mich in Korea wirklich nie beklagen. Es erinnerte mich eher an einen Besuch bei meiner Großmutter. Wenn ich nicht selbst für meine Verpflegung sorgte, gab es wahrscheinlich keine Möglichkeit mich vor den Mengen zu schützen. Ich lief Anneenas Mutter hinterher und frage sie, wie ich helfen könne, doch sie verbannte mich auf die Couch. Ihr Sohn hatte gerade Avatar – The Last Airbender rausgeholt und nahm mich als Stimmungsbarometer für die Folgen, die er sehen würde. Ich sollte eine DVD raussuchen. In der kurzen Zeit, die der Fernseher einfach so mit normalem Programm lief, fiel mir auf, dass Ton und Bild versetzt waren: Der Ton kam fast zwei Sekunden nach dem Bild. Als ich die Familie darauf ansprach, meinte Anneenas Mutter, dass koreanische Pay-TV nun einmal ein bisschen anders sei. Ich war baff. So könnte ich nie fernsehen. In dem Zusammenhang war ich umso glücklicher, dass der Junge eine DVD einlegte, bei der alles immerhin stimmte. Natürlich mussten wir es auf Englisch sehen, weil ich zugegen war und kein Koreanisch verstand. Tatsächlich wollte ich, dass die Kinder mal ein bisschen übten.

Da Fernsehen für mich eine geisteseinnehmende Tätigkeit war, konnte ich nicht wirklich Konversation betreiben. Gleichzeitig vielen mir auch nicht viele Themen ein, über die ich mit Anneena oder ihrer Mutter reden könnte, was mit Sicherheit auch an der leerenden Wirkung des laufenden Fernsehers lag. Davon abgesehen war mein Bauch sehr voll. Jedenfalls endete es darin, dass die junge Dame des Hauses lustige Bilder mit mir schoss und der junge Herr dabei zusah, wie die Welt von einer Horde Kinder gerettet wurde.

Zwischendurch tischte Anneenas Mum uns noch selbstgemachte Hoddeok auf, die sie in mühseliger Kleinstarbeit hergestellt hatte: Sie musste eine Fertigbackmischung anrühren. Kein Wunder, dass meine Hilfe überflüssig war. Das Ergebnis ließ sich allemal sehen:

selbstgemachte Hoddeok

Zur Stärkung unserer Abwehrkräfte in diesem bitterkalten Winter gab es außerdem ein Fläschchen Yakult für jeden von uns, doch auch diese hatten sich für die Saison schick gemacht.

Yakult in festlicher Flasche

Da viele Koreaner Yakult nicht wie üblich tranken, sondern oftmals einfroren, um daraus Eis zu machen, hatte der Hersteller es sich angewöhnt, die Öffnung auf der anderen Seite anzubringen, weil es dadurch für die Konsumenten einfacher wurde. Das war eine wirklich interessante Kleinigkeit, die ich da gelernt hatte.

Irgendwann wurde es spät und Anneenas Mutter hatte sich angeboten, mir beim Verschicken eines Paketes behilflich zu sein. Also packten wir einen Schuhkarton voll mit Süßigkeiten, versigelten ihn sicher und gingen zum nächstbesten Laden, um ihn dort abzuschicken. Zwischen Tür und Angel drückte Anneena mir noch ein Buch in die Hand. Es war ein Kinderbuch, das vom Wolkenbrot handelte. Sie schenkte es mir, weil sie und ihr Bruder eh schon zu alt dafür waren, der Lesestoff aber genau auf meinem Sprachniveau war. Es war eine süße Geste und ich freute mich darüber. Allerdings hatte ich keine Zeit, es in meinen Rucksack zu packen, also hielt ich es samt Paket in der Hand. Sonntag und erster Tag des Jahres hatten hierbei keinerlei Bedeutung, denn es war nicht koreanisches Neujahr und die Geschäfte waren sonntags nun einmal immer geöffnet.

Den Aufkleber mit Empfänger und Absenderadresse durfte man selbst erstellen. Zum Glück hatte ich Muttersprachler dabei, denn alleine wäre ich gescheitert. Anneenas Mutter machte alles zügig, gab ihre Adresse als Absender ein, ließ mich aber bezahlen und dann legten wir das Paket einfach so in einen offenen Behälter. Man musste nichts aufschließen, nichts einschließen, es wurde nicht irgendwo hinter der Theke verstaut, es lag einfach so in einem Container neben der Tür. Ich überlegte, ob so ein Konzept in Deutschland Chancen hatte, verwarf den Gedanken gleich aber wieder, weil ich verschiedene Leute lauthals „Briefgeheimnis“ schreien hörte. Als wir den Laden verließen, hatte ich das Buch nicht mehr bei mir, aber das würde mir erst einige Tage später auffallen.

Kaum waren wir aus der Tür raus, als auch schon der Bus angefahren kam. Dieses Mal stiegen wir ein und fuhren zur Metrohaltestelle. Selbstverständlich wurde die gesamte Fahr zusammen berechnet, wie es in Korea nun einmal üblich ist. Am Bahnhof verabschiedeten wir uns ausgiebig, ich bedankte mich tausendfach für die Einladung, all das Essen und die Hilfe sowie für einen schönen Neujahrstag. Dann fuhr ich zurück in die Herberge, um ein bisschen mehr Schlaf als die Nacht zuvor zu bekommen.

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