Sonntag, 30. April 2017
Sylvester in Seoul - Tag 5
Samstag. Es war der letzte Tag des Jahres. In wenigen Stunden – nun ja, das ist Ansichtssache, denn der Tag hatte gerade erst begonnen – würde ein neues Jahr anfangen. Das war bei weitem kein Grund gegen eine ausführlich geplante Tour. Und Planung war mehr notwendig denn je, denn ich wollte den Wachwechsel am Deoksugung Palast sehen. Dieser Palast lag gegenüber der Stadthalle und bot dreimal am Tag einen Wachwechsel: um 11:00, 14:00 und 15:30 Uhr. Da ich noch andere Dinge vorhatte und nicht wusste, wie lange diese in Anspruch nehmen würden, wollte ich beim ersten Schauspiel zugegen sein. Das war recht spät, da meine Ausflüge für gewöhnlich früher begannen. Dennoch kam es mir ganz entgegen, denn immerhin musste ich an diesem Tag lange wach bleiben.

Ich aß also ein spätes Frühstück, plante genug Pufferzeit ein und zog zeitig los. Als ich ankam hatte ich noch genug Zeit, um mir die Umgebung anzusehen. In meinem Reiseführer wurde auch die Mauer um den Palast als sehenswert bezeichnet, weshalb ich mich auf den Weg machte, das Gelände zu umrunden. Eine wirklich kleine Straße führte von einer mittleren Straße neben dem Palast ab, und dort konnte man an der Mauer entlangspazieren. Es gab breite Fußgängerwege, Bremshügel, die Mauer in ihren verschiedenen Epochen und bunte Bäume. Die Bäume waren deshalb bunt, weil irgendjemand ihnen Mäntelchen gehäkelt hatte. Es war ein urkomischer Anblick: Auf der einen Seite stand ein kulturhistorisches Monument, daneben fand man Guerilla Knitting. Ich gebe zu, dass der Kontrast, auch in seiner farblichen Natur, mir sehr gefiel.

Mauer entlang des Deoksugung Palasts

Ich zog weiter, die Mauer veränderte sich, wurde mal kleiner, mal größer. Dann fand ich ein Tor, das deutlich machte, dass hier nicht der Eingang zum Palast war. Gegenüber fand ich eine Botschaft, war mir aber nicht sicher, welches Land es war. Die bewaffneten Soldaten davor waren jetzt nicht sonderlich einladend. Ich bog um eine Ecke und stellte fest, dass die Mauer aufhörte und Wohngebäude anfingen. Das war nun wirklich bizarr: Man hatte die Mauer weiter um das Gelände gezogen, aber die Straße endete in einer Sackgasse. An den Rest der Mauer grenzten Hinterhöfe, private Gärten und Firmengebäude. Ich war baff. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Es reicht zu sagen, dass ein Rundgang um die ganze Mauer sich nicht lohnt, dass man gerne bei der ersten Biegung aufhören kann, um dann den Rückweg anzutreten. Rechtzeitig zum Wachwechsel war ich wieder zurück am Eingangstor des Palastes.

Es war bereits alles für den bevorstehenden Wachwechsel vorbereitet: eine Trommel stand einige Meter vor dem Tor; rot-blau-gelbe Abgrenzungen machten neugierigen Zuschauern deutlich, bis wohin sie gehen durften; dort wo sich keine Absperrungen fanden, gab es immer noch deutliche Markierungen auf dem Boden; ein Mann wies Leute im Zweifelsfall zurecht. Ich bezog Position, genau gegenüber vom Eingang, und beobachtete die jetzige Wachmannschaft genau. Sie war sehr nachlässig. Hier kratzte sich jemand im Gesicht, dort gähnte einer ausgiebig. So langsam dämmerte mir, warum Korea keine Monarchie mehr war.

Dann war es elf Uhr, im Hintergrund hörte man Blasinstrumente und Trommelschlag, zwischen den massigen Pfeilern des Tores sah man bunte Wimpel und Fähnchen; die Wachablösung rückte zielstrebig näher. Schon bald kamen bunt gekleidete Männer (und Frauen, glaube ich auch) durch den – von mir aus gesehen – linken Teil des Tores marschiert. Ihre Banner waren so lang und hoch errichtet, dass sie beinahe das Gebälk zerkratzten. Als erstes marschierten die Bannerträger in lila heraus, gefolgt von der gelben Garde Musikanten und zum Schluss erschienen die blaugekleideten Soldaten. Dieser Tross drehte eine Ehrenrunde, bevor jede Person Aufstellung bezog.

Wachwechsel am Deoksugung Palast

Wachwechsel am Deoksugung Palast

Rechts von mir untermalten die Musikanten einzelne Teile der Zeremonie. Ab und an wurde die große Trommel dreimal geschlagen, doch es war ein rotgekleidetes Männchen, dem diese Ehre zuteilwurde.

Wachwechsel am Deoksugung Palast

Ein anderes Rotgekleidetes Männchen, anscheinend ein offizieller Abgesandter aus irgendeinem finsteren Büro, überwachte derweil, dass die Wachablösung mit rechten Dingen zuging. Die Kapitäne der Truppen (oder welchen Rang auch immer sie bekleiden mochten) fielen durch ihre kunterbunten und schwarzen Uniformen auf, die zwar dem Schnitt der Soldaten nachempfunden waren, allerdings deutlich mehr Farbspektrum und Vielfalt zeigten.

Wachwechsel am Deoksugung Palast

Siegel wurden präsentiert, Waffen gezeigt, Reden geschwungen, Befehle gebrüllt, Leute drehten Ehrenrunden, Hörner erschallten, Trommeln dröhnten, und dann posierten die Gardisten für neugierige Touristen. Es gab sogar eine Ansage, dass man jetzt Fotos mit ihnen zusammen machen durfte. In schöner, koreanischer Manier waren alle Teilnehmer grellbunt gekleidet. Und damit war der Wachwechsel am Deoksugung Palast vollzogen.

Wachwechsel am Deoksugung Palast

Ich lächelte in mich hinein und kaufte mir eine Eintrittskarte für 1000 Won. Hinter dem Tor erhaschte ich noch einen Blick auf die Gardisten, die in völlig unzeremonieller Manier ihre Haltung fallen ließen und mit einander scherzten. Da legten sie für fünfzehn Minuten Disziplin an den Tag, nur um hinter den Kulissen umso nachlässiger zu sein. Wie dem auch sei.

Wie in den anderen Palästen auch gab es im Deoksugung Palast viele freie Flächen, die als Höfe für die Gebäude dienten. Außerdem wurde dieser Palast bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts genutzt, was zu vielen Modernisierungsarbeiten geführt hatte. Beispielsweise gab es elektrisches Licht und Teppichboden in einem Pavillon. Zwar waren viele Gebäude Feuer zum Opfer gefallen, aber man hatte sie wieder aufgebaut, so dass neugierige Besucher sie sich heutzutage ansehen konnten.





Deoksugung war eine recht seltsame Ansammlung von Kuriositäten. Zum einen gab es die westlichen Deckenlampen an einer ansonsten koreanisch-bunten Zimmerdecke, aber das war noch nicht alles. Stein wechselte sich mit Holz ab, bunte Verzierungen mit naturbelassenem Holz, Tradition mit Moderne. Auf der einen Seite standen viele hölzerne Gebäude in traditionell koreanischer Bauweise, während man auf der anderen Seite massive Steinbauten im Kolonialstil fand. Dazwischen gab es noch einen Garten in europäischem Stil und einen Springbrunnen, der zu dieser kalten Jahreszeit nicht lief. Es war wirklich faszinierend.



Regierungsgebäude mit Springbrunnen

Europäischer Garten im Deoksugung Palast

Wie es in Korea nun einmal vielerorts üblich war, durfte man nicht allzu viele Berührungsängste an den Tag legen, wenn man solch eine Sehenswürdigkeit besuchte. Den Jeonggwanheon Pavillon beispielsweise durfte man explizit betreten, vorausgesetzt man tauschte vorher seine Straßenschuhe gegen Filzpantoffeln aus. Darin durfte man sich auch auf die Stühle setzen und die Tische anfassen, während man Teppichboden unter den Füßen und blumenförmige Lampen überm Kopf bestaunte.

Jeonggwanheon Pavillon von innen

Der Thronsaal war ein enormes Gebäude, dessen Decke mit goldenen Drachen geschmückt war. Selbstverständlich war der Thron pompös. Immerhin ging es hier um die Repräsentation von Macht.

Drachen an der Decke des Thronsaals

Thron

Thronsaal

Ich verbrachte ziemlich viel Zeit dort, ging durch jede Tür und jedes Tor, das nicht verschlossen war, schlenderte durch die Gärten und entdeckte Sitzgelegenheiten für erschöpfte Besucher, sah mir Gebäude genau an und ging anderen Besuchern aus dem Weg. Als ich fertig war, zog ich weiter in einen anderen Stadtteil, der nicht so weit entfernt schien (und es tatsächlich auch nicht war): Myeongdong.

Tatsächlich war der Weg vom Palast nach Myeongdong ziemlich kurz, so dass ich wenige Minuten später vor dem riesigen Touristeninformationszentrum stand. Zwar hatte ich keine konkreten Fragen an die Angestellten, konnte ebenso wenig mit Beschwerden dienen, aber ich wollte mal einen Blick hineinwerfen, weil es das größte Touristenzentrum im ganzen Land sein sollte. Als ich eintrat, wurde ich tatsächlich von mehreren Wänden mit Broschüren und Flyern begrüßt, die sich ausschließlich auf Sehenswürdigkeiten in und um Seoul bezogen. Selbstverständlich gab es diese in verschiedenen Sprachen.

Ich warf einen kurzen Blick auf die Papiermassen vor mir und zog dann weiter in den Souvenirshop, der auch hier drinnen war. Dort fand ich eine richtig schöne Hülle für Reisepässe. Es war eine zusammengefaltete Weltkarte, die auf alt und gebraucht getrimmt worden war. Sie war in Brauntönen gehalten und bestand aus gefestigtem und beschichtetem Papier. Also holte ich sie mir, nur um dann festzustellen, dass der deutsche Reisepass nicht hineinpasste. Ich musste sie wieder zurückgeben.

Auf meinem Weg nach draußen wurde ich von einer freundlichen Mitarbeiterin aufgehalten, die mir anbot an einer Lotterie teilzunehmen. Ich musste nur eine Kugel aus einem Behälter ziehen und würde einen Preis bekommen. Im Gegenzug musste ich ihnen nur mein Ursprungsland sagen. Das war ein fairer Deal, wie ich fand, also machte ich mit. Ich gewann eine Geldkarte, die wie die T-Money-Karte funktionierte und normalerweise um die 2000 Won kostete. In Anbetracht der Tatsache, dass meine T-Money-Karte noch voll funktionsfähig war, sah ich allerdings keinen Bedarf dafür. Ich packte sie ein und zog meiner Wege.

Wieder draußen beschloss ich, dass es Zeit für einen Snack war. Also suchte ich ein Café mit Leckereien. Nach einigem hin und her, auf und ab und einer schier endlosen Auswahl entschied ich mich für Sulbing. Im Winter boten sie nicht nur Bingsu, sondern auch heiße Speisen an. Also holte ich mir süßes Bohnenporridge und einen dampfend heißen Yujacha (also Tee). Yuja ist eine Zitrusfrucht, die zu Marmelade verarbeitet wird, aus der man wiederum Tee macht. Er schmeckte mir sehr gut. Auch das Porridge war sehr gut, sehr sättigend und typisch koreanisch.

Bohnenporridge und heißer Tee im Sulbing

Frisch gestärkt zog ich weiter zur Kathedrale dieses Viertels, die wegen ihrer Bedeutung für die Christenheit in Korea sowie für ihren gotischen Stil groß angepriesen wurde. Man musste erst einmal viele Stufen hinaufsteigen, durfte dabei aber ein Feld von weißen (Kunst)Rosen bewundern.

Kathedrale in Myeongdong von außen

Es gab sogar einen speziell eingerichteten Platz, von dem aus man das beste Foto schießen konnte. Ich entschied mich für andere Ansichten derselben Sehenswürdigkeit. Auf dem Hof vor der Kirche fand sich ein Krippenspiel in fast Lebensgröße, das selbstverständlich auch als Kulisse für stimmungsvolle Fotos genutzt wurde.

Krippenspiel vor der Kathedrale in Myeongdong

Innen fand ich eine Kirche vor, wie ich sie eben kenne. Mit einer Ausnahme: Es gab Fernseher. Selbstverständlich dienten diese Geräte nicht dazu, die aktuelle Episode der Sportschau zu zeigen oder die koreanische Variante vom Dschungelcamp zu präsentieren, sondern man übertrug die Messe mithilfe von Kameras und Fernsehern in jeden Winkel der Kirche, damit die Leute auf den hinteren Plätzen sich nicht benachteiligt fühlten. Offensichtlich ging hier auch die Kirche mit den technischen Fortschritten der Zeit.

Dann war es Zeit, mich in die Menschenmassen zu stürzen und diesen Stadtteil in Augenschein zu nehmen. Ich schlenderte durch die Straßen, ließ mich von den Wogen treiben, ging mal die Hauptstraße, mal kleine Seitengassen entlang, bestaunte kleine Shops und riesige Einkaufszentren. Ähnlich dem Kakao-Friends-Shop fand ich einen Line-Friends-Shop. Für all jene, die es nicht kennen: Line ist der beliebteste Messanger-Dienst in Japan und hat neben normalen Smileys ebenfalls eigene Figuren in Tiergestalt. Allerdings sind sie nicht so cool wie die bei KakaoTalk. Ich ging am Laden vorbei.

Es war so voll. Überall waren Menschen. Stellenweise kam ich kaum durch, weil sich so viele Leute um eine Sache drängten. Aber ich fand verschiedene Socken und eine Maske mit dem Union Jack drauf. Das musste mitkommen.

Nachdem das erledigt war, stürzte ich mich auf den Straßenmarkt von Myeongdong. Es standen immer mehr Marktstände auf den Straßen und ich hatte vor, mich durchzufuttern. Immerhin war seit meinem Besuch bei Sulbing ein bisschen Zeit vergangen und es war Zeit für den nächsten Gang. Sich durch Marktstände zu futtern ist immer eine gute Idee.

Durch Beziehungen erfuhr ich davon, dass es hier im Viertel eine ganz besondere Eisdiele gab. Sie verkaufte Eis, das wie eine Rosenblüte aussah. Ihr Name: Milky Bee. Im Schaufenster konnte man dabei zusehen, wie der Fachmensch ein Blatt nach dem anderen anlegte und auf diese Weise ein kulinarisches Kunstwerk schuf. Es gab vier verschiedene Varianten und vier verschiedene Geschmacksrichtungen: Erdbeere, Joghurt, Schokolade und grüner Tee. Die Kombinationen waren Erdbeer-Joghurt, grüner Tee-Schokolade-Erdbeere, grüner Tee-Joghurt-Erdbeere oder Schokolade-Joghurt-Erdbeere. Der Preis hing davon ab, wie viele Geschmacksrichtungen man wählte. Drei Farben für 6000 Won (ca. 5 €) waren schon happig. Dennoch wollte ich mir dieses Erlebnis trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt nicht entgehen lassen. Also ging ich zur Kasse, bestellte eine Erdbeer-Joghurt-Schokoladen-Rose, bekam meinen Buzzer und sah im Schaufenster zu, wie ein Rosenblatt nach dem anderen angeklebt wurde.

Die Handgriffe des Eismannes waren zielsicher und geschwind. Innerhalb weniger Minuten entstand ein neues Eis. Als mein Buzzer summte, ging eine Tür auf und ich durfte ihn gegen mein Eis eintauschen.

Milky Bees Roseneis
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Schoko-Joghurt-Erdbeere

Es schmeckte sehr gut. Erdbeere, Joghurt und Schokolade harmonierten miteinander und keine Geschmacksrichtung war zu süß oder zu intensiv. Dank der kalten Temperaturen musste ich mir auch keine Sorgen machen, dass das Eis in meiner Hand schmelzen würde. Einziges Manko war das Hörnchen, denn es war aus dünnem Esspapier, so dass es unter der Last der Rosenblüte fast zusammenbrach, ohne dass man viel dazutun musste. Ich musste mich letztlich doch ein bisschen beeilen, weil das Hörnchen sonst nachgegeben hätte.

Dann gab es noch Tornadopotatoes. Ja, selbstverständlich holte ich mir auch eine Kartoffel am Spieß.

Tornadopotato!

Jetzt stand Eibrot auf dem Plan. Es war ein süßes Küchelchen, in dessen Mitte ein Ei eingebacken wurde. Es war eine komische Komposition aus süßem Teig und Ei, doch in keinerlei Weise schlecht. Mir schmeckte es jedenfalls sehr gut.

Eibrot in Myeongdong

Natürlich bin ich mir darüber in Klaren, dass das Essen an solchen Marktständen entschieden mehr als in einem Restaurant oder zu Hause kostet – selbst in Korea. Aber Urlaub ist für Spaß da, also hielt ich mich nicht zurück.

Nachdem ich das hinter mich gebracht hatte, wollte ich mir noch die nahegelegenen Lotte-Attraktionen ansehen, um genau zu sein den Lotte Young Plaza und Lotte Town, zwei Einkaufszentren, die aneinandergrenzten. Also brach ich zu der geballten Wucht Lotte auf, obwohl es nicht omnipräsent war, aber anscheinend war ich gerade in der Lotte-Gegend. Im Gegensatz zu den neu gebauten Shopping-Malls, die in Korea so aufwändig und stylish gestaltet wurden, waren alte Einkaufshäuser eher mit dem deutschen Pendant zu vergleichen. Wie Galeria Kaufhof, Karstadt oder P&C waren es einfach Verkaufsflächen mit vielen verschiedenen Läden. Der Lotte Young Plaza war mitunter bedrückend, weil die Decken so tief hingen, es keine Fenster gab und das Licht stellenweise eher duster wirkte. Es gab allerdings einen Teil in Lotte Town, der neu gestaltet schien und den Rückstand zu neuen Gebäuden aufzuholen suchte. Ein Teil der Rolltreppen am Haupteingang bot wesentlich mehr Luft, man hatte Platz für Cafés geschaffen und indirektes Licht hinzugefügt.

Lotte Town

Zwar war es immer noch nicht so modern wie ein frisch errichtetes Gebäude, beispielsweise Times Square, aber es half sehr. Draußen war dafür umso mehr Platz für Deko und Beleuchtung. Überall waren Lichterketten, alles war in Licht gehüllt, ob Bäume, Sträucher oder eigens aufgebaute Figuren. Es war ein kleines Lichtermeer.

Damit war mein Tag in Myeongdong abgeschlossen. Wie gesagt war es der letzte Tag des Jahres und ich musste mich noch für Sylvester vorbereiten, eine kleine Pause einlegen, bevor ich wieder aufbrach. Eine ordentliche Mahlzeit würde mir auch nicht schaden, weshalb ich wieder in Richtung Hostel fuhr und mir dort einen Laden mit Leckereien in der Nähe suchte. Ich fand ein kleines Lokal, in dem mal wieder kaum Englisch gesprochen wurde, was mich nicht davon abhielt, mir eine große Portion Bibimbap zu bestellten. Es war vorzüglich und genug für den Rest des Jahres.

Letztes Bibimbap im Jahr 2016

Danach zog ich mich zurück, um mich für die letzte Stunde des Jahres zu wappnen. Die Tradition in Seoul war, um Mitternacht des westlichen Neuen Jahres die Bosingak Belfry Glocke zu läuten. In meiner grenzenlosen Naivität nahm ich an, dass es reichen würde, wenn ich eine halbe Stunde vor dem Ereignis am Ort des Geschehens ankäme. Ich schätzte die Zeit, die ich bis dahin brauchen würde, nahm eine Bahn und stellte schon bald fest, dass ich nicht die einzige mit dieser glorreichen Idee gewesen war. Bereits in der Bahn waren viele Leute. An der Haltestelle stiegen viele von ihnen aus. Das wiederum machte es mir noch einfacher, den Weg zu finden, denn sie alle zogen in eine Richtung. Also folgte ich brav der Herde, vorbei am Tapgol Park, der zu dieser Zeit schon geschlossen war, vorbei an zahllosen Marktständen und Essenswägelchen, die immer noch geöffnet waren und ihre Waren feilboten, entlang der Jong-ro-Straße und blieb irgendwann stehen. Die gesamte Jong-ro-Straße war gesperrt und von der Polizei gut abgeschirmt.

Das Stehenbleiben war aber nur zum Teil eine gewollte Handlung, denn irgendwann ging es einfach nicht mehr weiter, und ich blieb auch nur zum Teil stehen, weil ich mich immer bewegen musste, wenn die Masse sich bewegte. Es war wie ein pulsierendes Meer aus Menschen. Man musste mit jeder Strömung mitgehen oder würde untergehen.

Sylvester nicht weit, aber auch nicht nah der Bosingak Belfry Glocke

Trotzdem war es eine sehr ruhige und gesittete Veranstaltung, die nicht die geringsten Spannungen aufkommen ließ, die ich in einem derartigen Trubel in Deutschland erwartet hätte. Zu meiner grenzenlosen Verwunderung zeigten die Koreaner aber trotzdem ein gewisses Maß an Anstand und Entgegenkommen, wenn es um Musiker und Künstler ging. Nicht weit von meinem festgefahrenen Aufenthaltsort gab es eine Gruppe traditioneller Musiker in ihren bunten Kostümen und Bommeln sowie Schleifen auf den Hüten. Sie standen im Kreis, machten Musik und vollführten ihre Tänze. Egal wie drängend voll es war, sie hatten fast immer genug Platz für ihre Vorstellung.

Tanzgruppe traditioneller Tänzer am Sylvesterabend

Das hieß keineswegs, dass ich auch nur irgendwo in der Nähe der Glocke war. Ich kann nicht einmal schätzen, wie viele Menschen zu diesem Ereignis anwesend waren, aber es war richtig voll, schätzungsweise mehrere Hunderttausend. Wahrscheinlich hätte man zwei Stunden früher erscheinen müssen, um auch nur in die Nähe des Pavillons zu gelangen, in dem die Glocke hing. Kluge Köpfe in der Verwaltung hatten das allerdings berücksichtigt und große Fernseher aufstellen lassen, auf denen man sowohl den Countdown als auch die Ereignisse direkt am Pavillon live miterleben konnte.

Als die letzten zehn Sekunden auf dem großen Bildschirm groß runtergezählt wurden, zählte jeder Koreaner laut mit. Bei Null, zum Jahreswechsel, herrschte aber schlagartig Totenstille. Jeder war ruhig, denn man wollte den Klang der Glocke hören. Und tatsächlich: Obwohl wir so weit weg waren, hörte man ihn leise erklingen. Gefolgt wurde das von einem einheitlichen, Bewunderung ausdrückenden „Ohhhh!“ seitens der Koreaner. Noch ein Glockenschlag, noch ein „Ohhhh!“. Es war einfach herrlich diese Stimmung mitzuerleben.

Nachdem die Glocke zum dritten Mal geschlagen worden war, löste die Menge sich plötzlich auf. Während in anderen Ländern das das Zeichen war, um mit der Party zu beginnen, sahen die Koreaner darin einen Wink sich wieder anderen Dingen zu widmen. Ich wollte aber noch ein bisschen stehenbleiben und mir ansehen, was es noch zu sehen gab. Ein großes Feuerwerk kam nicht. Es gab irgendwo weit vor mir ein kleines, öffentlich genehmigtes Feuerwerk, doch im Vergleich zu Deutschland war es mickrig. Es gab Kirmesfeuerwerke in Deutschland, die mehr Raketen in die Luft feuerten.

Dem koreanischen Otto Normalverbraucher war es nicht gestattet in dieser dicht besiedelten Stadt mal eben Raketen abzuschießen oder Böller durch die Gegend zu werfen. Verständlicherweise. Bei der Ansammlung von Menschen waren ernsthafte Verletzungen nicht auszuschließen, von Bränden und Beschädigung von Privateigentum mal ganz zu schweigen. Es gab allerdings einige kleine Feuerwerkskörper, die man selbst zünden durfte. Man hielt einen Stab in der Hand, aus dem bunte Leuchtkugeln einige Meter hoch in den Himmel schossen, um dann in weißem Licht zu explodieren. Es war knuffig. Nur wenige Menschen hatten so etwas mitgebracht oder zeigten Interesse am Kauf davon. Dieses Neujahrsfest war nicht das wichtige Neujahr in Korea.

Menschenmenge löst sich am Sylvesterabend auf

Meine Weigerung mich fortzubewegen hatte seltsame Folgen. Ich musste schon gegen den Strom ankämpfen, um nicht einfach mitgerissen zu werden, aber sobald die Menschen merkten, dass hier jemand stehen blieb, umflossen sie mich geschickt. Man ging sehr rücksichtsvoll miteinander um. Trotzdem musste ich mich immer wieder zusammensammeln, weil mal ein Arm, mal ein Bein, mal irgendetwas mitschwamm, während der Rest stehen blieb. Es war richtig lustig.

Als ich mich dann doch entschied zu gehen, weil ich nicht nach Hause laufen wollte, war der Strom an Menschen immer noch nicht versiegt. Sie gingen alle in Richtung Metro (verschiedene Haltestellen). Auch ich wollte noch meine letzte Bahn bekommen. Dank meiner Trödelei schaffte ich es gerade so. Aber es war viel zu lustig, mir das Spektakel anzusehen, also war ich froh, dass ich ein bisschen länger geblieben war. Endlich, gegen halb zwei, war ich im Hostel angekommen.

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